Laura Czichon

Kunsthistorikerin aus Karlsruhe, Katalogtext zu „einfach/zweifach“ Johannes Gräbner/Felix Seelos, 2020

„Die Kunst ist nicht das, was man sieht; sie ist in den Lücken. – Es ist der Betrachter, der diese füllen muss. Ohne seine schöpferische Teilnahme
bleibt das Werk Fragment. – Er allein kann es vollenden.“
Marcel Duchamp

Der Betrachter sieht das Bild, erfasst es mit seinen Augen. Dies ist zunächst ein rein chemischer und physikalischer, nicht kontrollierbarer Prozess, der nur unterbrochen werden kann, sollte er bewusst den Blick abwenden, die Augen schließen. Doch sein Blick wird erwidert. Gräbners Figuren blicken den Betrachter an. Sie erscheinen in einer fast schon erwartenden Frontalität. Durch diese Erwiderung, das sofortige Einfangen des ersten flüchtigen Blicks wird die reine Aufnahme visueller Reize unmittelbar erweitert, sie wird zu einem „innere[n] Sehen mit punktuellen Bezügen zur Wirklichkeit“: der Betrachter betrachtet. Und die Figuren betrachten zurück – ungeschönt, en face, mit aller Eindringlichkeit.

Als eines der ältesten Motive in der Geschichte der Malerei greift Johannes Gräbner auf die Darstellung der menschlichen Figur in seinen Arbeiten zurück. Das Porträt wird zum zentralen Thema seiner jüngsten Arbeiten. Seit Robert Campin, auch Meister von Flémalle genannt, im Jahr 1425 mit dem „Bildnis eines Mannes“ eines der ersten autonomen Porträts schuf, versuchten sich die bildenden Künstler seit dem späten Jahrhundert nicht nur dem äußeren Erscheinungsbild, sondern auch dem Wesen ihres Modells anzunähern. Die so entstehende Authentizität der Bildgattung Porträt übte seitdem eine fortwährende Faszination auf den Betrachter aus. Diese Lebensnähe erkennt man auch in Gräbners Werken.

Die dargestellte Person als Schulter-, Brust- oder Kniestück bildet den Mittelpunkt des Gemäldes. Alles andere wird zur Nebensache. Der reine Blick, der Austausch zwischen Betrachtetem und Betrachtendem steht im Fokus. Der Hintergrund wird meist in monochromen Farbflächen gehalten, nur selten erhascht man marginale Einblicke in beliebig erscheinende Räumlichkeiten, wie ein Krankenzimmer oder eine einfache bürgerliche Stube, in welcher der „Malzbiertrinker“ (2016) sein Vesper einnimmt.

Nichts lenkt ab, vielmehr richtet die hintergründige Farbigkeit den Blick einmal mehr auf die Person, welche sie umrahmt. So bietet der Hintergrund dem Dargestellten keine Bühne, auf welcher er eine – seine – Rolle spielen kann, er verrät und wertet nicht dessen gesellschaftlichen Status, lässt nicht auf eine bestimmte soziale Umgebung schließen. Obwohl meist vollständig bekleidet oder aber auch von Kopf bis Fuß von Farbe bedeckt, oftmals beinahe verhüllt in übergroßen Pullovern, schweren Mänteln und locker sitzenden Shirts, welche die körperliche Beschaffenheit nicht preisgeben, wirken die Figuren in ihrer schonungslosen Darstellung geradezu nackt. Die Haltung meist gänzlich gerade – jedoch auf natürliche Weise –, die Hände in den Taschen, hinter dem Rücken verschränkt oder die Arme locker links und rechts neben dem Körper hängen gelassen, schützen sie sich auch gestisch nicht vor den Blicken des Betrachters, positionieren sich ihm offen und frontal gegenüber – mit direktem Blick. Das Gesicht wird zum zentralen Bildelement. Die Konzentration auf das Haupt erinnert an die frühen Porträtisten, welche selbst nur den Kopf malten und die Ausfertigung der restlichen Darstellung den sogenannten „Ausfertigern“ oder Staffagemalern überließen. In Gräbners Figurendarstellungen bleibt die austauschbare Kleidung auch einziges Attribut im Bild, kaum andere Gegenstände verhelfen zu einer näheren Charakterisierung der dargestellten Personen.

Wendet sich also der Betrachter für eine bessere Einordnung seines Gegenübers den Titeln der Gemälde zu, so wird er die gesuchte Hilfestellung nicht finden. Denn ebenso wenig wie die lokale Verortung, das Gestische oder zeichenhaft angedeutete Besitztümer, geben diese Aufschluss darüber, wen er da betrachtet. So lässt beispielsweise „Im Raum der Möglichkeiten“ (2018) tatsächlich alle Möglichkeiten offen.

Das Weiteren liest der Betrachter auf die momentane Aktivität reduzierte Beschreibungen („15-Minuten-Maske“, 2017) und entdeckt auch immer wieder Namen, eine „Kristin“ (2017) oder eine „Christa“ (2016). Manchmal werden diese erweitert durch eine im Grunde genommen nicht erweiternde Nennung materieller Attribute, wie eine („Lisa mit) Schal“ (2014) oder („Tamar mit) Mantel“ (2015). Jedes dieser Beiwerke für sich austauschbar, bieten sie keinerlei Hinweise auf die dargestellte Person, ihre Gedanken, Träume oder Ängste. Sie helfen dem Betrachter keineswegs auf seiner Suche herauszufinden, wen er da vor sich sieht. Und auch die Namen verharren wie Goethe es beschrieb als „Schall und Rauch“. So bleibt jegliche Voreingenommenheit des Betrachters aus. Alles konzentriert sich wieder ganz auf den Blick. Er tastet sich vor, betrachtet das Gesicht, in welchem sich alle bildnerische Energie bündelt. Der Betrachter erfährt
dieses in seiner ungeschönten Reinheit, in seinem schonungslosen Realismus, voller Ausdruck, fernab jeglicher Überhöhung oder Idealisierung, wie unser Auge es durch die alltägliche, bearbeitete Bilderflut der Medien gewöhnt ist. Er entdeckt Spuren. Spuren, welche die Jahre und Erfahrungen hinterlassen haben. Farbspuren, die Gräbners kreativen Prozess nachvollziehen lassen. Johannes Gräbner arbeitet mit der Farbe. Sein Farbauftrag ist oft noch deutlich erkennbar, seine Farbpalette leuchtend. Neben Schwarz- und Weißabstufungen, umfasst sie ein strahlendes Rosa, Gelb, viele Blau- und Grüntöne sowie rote Akzente. Die Farbe teilt sich mit: zu allererst als Material des Künstlers. Die Bedeutung des Materials für Gräbner zeigt sich schon in seinen frühen Werken. Er arbeitet das Medium Material durch, experimentiert mit Federn, Zucker, Flaschendeckeln und Fundstücken, sogenannten objets trouvés, wie „Behemoth“ aus dem Jahr 2014. Es handelt sich hierbei um ein fast vollständig verkohltes Holzgatter. Holz als organisches Material ist geprägt durch seine Vergänglichkeit, es ist seiner Umgebung mit ihren Witterungen und Schädlingen ausgesetzt, ist leichtes Opfer von Zerstörung durch Wasser, Licht oder – wie in diesem Fall – Feuer. Die Flammen haben es schwarz gefärbt, seine Oberflächenstruktur verändert. Es wirkt fast künstlerisch bearbeitet, unwirklich, surreal, verwandelt. Das Schwarz wirkt nahezu wie Farbe, pastos aufgetragen, sodass die Strukturen des Pinselstrichs erkennbar bleiben.

Die Betonung der Farbe als Material wird in Gräbners Werken „Gehege“ (2010) oder „Blau“ auf die Spitze getrieben: die Farbe wird zur Form, zum plastischen Gegenstand, Inhalt und Ausführung wird eins. Farbe ist in Gräbners Werken aber auch Werkzeug. Werkzeug um Gesichter zu formen, zu gestalten, Charaktere auszuarbeiten, Lebenspuren aufzuzeigen. Aus dem Medium Farbe wird eine Art Sprache, die vom menschlichen Dasein erzählt. Zweifach. Vom Leben des Dargestellten offenbart in dessen Gesichtszügen und vom Künstler selbst und seinem Handwerk. Diese Ehrlichkeit erinnert an die sozialkritischen Selbstbildnisse Curt Querners (*Börnchen, Bannewitz, Sachsen), die ihrerseits Nuancen des frühen Verismus von Otto Dix in sich tragen: ungeschönte menschliche Darstellungen, markante Gesichtszüge, herausfordernde strenge Blicke.

So gibt sich der Betrachter wieder dem Blickkontakt hin, dem direkten Zugang, wählt die Flucht nach Vorne, die Verbindung durch den Blick. „Nichts spielt im Leben eine solche Rolle wie das Auge und der Blick“, so beschrieb es auch Siegfried Seligmann, deutscher Augenarzt und Privatgelehrter, im Jahr 1910. Diese visuelle Verbindung gibt Sicherheit, verrät Empfindungen, Gedanken. Der Betrachter geht eine Art flüchtige, optische Fernbeziehung mit dem Dargestellten ein. Er will den Blick nicht abwenden, nicht der Erste sein, der diese Verbindung unterbricht und begibt sich so weiter auf seine Suche. Aber warum schweift sein Blick nicht ab? Es ist das Spiel mit der Direktheit, der Konfrontation mit einem aus dem Bild blickenden Augenpaar. Durch dieses entsteht die Kommunikation zwischen Betrachter und Gemälde, denn das Auge besitzt als einziges Sinnesorgan einen zweifachen, einen geradezu kommunikativen Charakter. Goethe beobachtete hierzu: „Das Ohr ist stumm, der Mund ist taub, aber das Auge vernimmt und spricht“. Diese Blickberührung lädt zum Dialog ein. Zum Dialog mit dem Betrachter, denn Gräbners Figuren sind allein. Die Darstellung des Einzelnen steht im Vordergrund, das Für-sich-sein vor sich auflösendem farbigen Grund, der Fokus auf dem Individuum, der Einsamkeit, dem Alleinsein. Wollen sie den Kontakt mit dem Betrachter? Oder sind sie Mittel zum Zweck? Sind sie Spiegel – reflektieren das, was ihnen gegenübersteht, geben selbst als bildhaftes Abbild ein Bild wieder?

Auch in Johannes Gräbers landschaftlichen Darstellungen spielt er mit dem Blick des Betrachters. Es sind Ausblicke, ausgewählte Blickfelder, wie die losgelösten Ausschnitte des Thüringer Waldes, dessen dunkle, stille Weiten ein immer wiederkehrendes Motiv in seinem Werk darstellen.
Johannes Gräbner arbeitet seine Waldblicke in einem differenzierten Spiel von Hell und Dunkel heraus. Fast schwarz recken sich die dunklen Nadelbäume aus ihrer neblig-weißen Umgebung, erstrecken sich in schier nicht enden wollende Weiten und Höhen. Nahezu figurativ strecken sie sich in „Drei Bäume“ (2018) aus einem extremen Blickwinkel der Höhe entgegen, losgelöst von jeglichem geografischen Kontext, erscheinen sie wie ein Gruppenporträt. Der Himmel verschwimmt mit der dunstigen Luft,
welche die Silhouette der Bäume verschleiert, ihre Umrisse auflöst, gleichzeitig in ihrer dunklen Farbigkeit hervorhebt. Diese dampfig – milchige Atmosphäre verhüllt jegliches sichtbares Ziel, auf das sich das Auge des Betrachters fokussieren könnte, sie gibt den Blick frei. Die weit hinten angesetzten Horizonte und ungewöhnlichen Perspektiven betonen diesen Weitblick. Nichts lenkt den Betrachter von seiner Sicht in die Ferne ab, keine Menschenseele ist zu entdecken, kein Vogel zerreißt das Hell der Lüfte. Die Natur ruht in der Dämmerung, ob früh am Morgen oder kurz vor der nächtlichen Dunkelheit – eingefangen wird ein Zustand, der einen Moment der Ruhe markiert, bevor das Leben erwacht oder nachdem es langsam zur Ruhe gekommen ist. Das Abbild einer Landschaft als Gemütszustand.

Die abbildhafte Bildlichkeit, die Wiedergabe von etwas Wirklichem spielt neben dem Blick eine zentrale Rolle in Johannes Gräbners Werken. „Elternhaus“ (2019) zeigt das Abbild eines Schiefersteins vor hellem Grund, „Unterm Strich“ von 2014 einen Stoffbären. Gräbner arbeitet die unterschiedlichen Stofflichkeiten in feinster Malweise heraus: die Knopfaugen heben sich leicht vom Fell des Teddys ab, der Betrachter glaubt die warme Wolle des roten Strickschals im Gegensatz zur rauen Beschaffenheit des dunklen Garns fühlen zu können. Später wird seine Malweise freier, doch der abbildende Charakter seiner Arbeiten wird fortgesetzt: in „Hase“ und „Bär“ von 2020 wiederholt sich das Sujet, doch hier wirkt es umrissener, der Pinselstrich pastoser, die Farbe wird wieder zum tragenden Element, zum Mittel der Abbildung. In dieser Werkreihe setzt sich Gräbner mit der Thematik der Abbildung auseinander, gleichzeitig umreißt er mit diesen Abbildern seine familiäre Umgebung.

Die verschiedenen Ebenen eines Abbilds zeigen sich sehr gut in der Kombination von Gräbners Arbeiten „Weiße Maske“ (2018), „Büste mit Gesichtsmaske“ (2018), „Fragment“ (2018) und „15-Minuten-Maske“ (2017). Letzteres zeigt die Darstellung einer jungen Frau. Sie hat eine kosmetische Gesichtsmaske aufgetragen. Pastos trägt Johannes Gräbner hier die Farbe auf, dick und teigig formen sich die farbigen Pinselstriche zu einem weiblichen Gesicht. Die Maske ist aus Farbe, die Farbe wird zur Maske.
In „Büste mit Gesichtsmaske“ (2018) löst sich das Abbild aus der Zweidimensionalität, gewinnt an Raum, bis es sich in „Weiße Maske“ (2018) und „Fragment“ (2018) nahezu auflöst. Zurück bleibt die Maske, ein Abbild des Gesichts, das sie einst trug. Zurück bleibt Farbe, geformt zu einem physischen Bild.